Der Begriff „Emotionales Essen“ taucht in der medizinischen Klassifizierung zum Thema Essstörungen bisher nicht auf. Sehnsucht und Hunger verwendet diese Bezeichnung, da er diejenigen Menschen mit einbezieht, die unter ihrem Essverhalten leiden, ohne jedoch die Kriterien der bisherigen offiziellen Definition von Essstörungen zu erfüllen.
Was ist emotionales Essen?
Wenn Menschen wiederholend mehr essen als ihr Körper braucht, dann essen sie emotional, während ihre Seele hungert. Emotionale Esser nehmen Nahrung zu sich, obwohl sie keinen Hunger verspüren und leiden darunter. Dies kann am Abend vor dem Fernseher geschehen oder tagsüber bei der Arbeit.
Warum wir ohne Hunger essen
Emotionales Essen ist der Versuch, mit dem Essen unangenehme oder schwer aushaltbare Emotionen zu regulieren. Emotionales Essverhalten kann aber auch bedeuten, dass eine Mahlzeit hungrig begonnen wird und man mit dem Essen nicht aufhören kann, obwohl der Körper signalisiert, dass er längst genug hat. Es ist also kein biologischer, kein körperlicher Hunger, der zum Essen auffordert, sondern etwas Anderes. Dies hat mit tieferliegenden Gründen zu tun, nämlich mit den Emotionen. Daher auch der Begriff „Emotionales Essen“.
Auch natürlich schlanke Menschen essen emotional
Jeder Mensch isst zuweilen emotional. Auch natürlich schlanke Menschen essen manchmal mehr als ihr Körper braucht. Der Unterschied zwischen normalem Essverhalten und einer emotionalen Essstörung liegt darin, dass es bei natürlich schlanken Menschen erstens selten vorkommt und sie sich zweitens keine Gedanken darüber machen, wie sie die aufgenommenen Kalorien wieder loswerden können. Es pendelt sich bei ihnen auf natürliche Weise von allein wieder ein.
Emotional essende Menschen hingegen kontrollieren sich beim Essen und haben dadurch kein entspanntes Verhältnis dazu. Bei den meisten von ihnen treten regelmäßig Essanfälle auf. Es gibt aber auch Menschen, die keine größeren Essattacken haben, sondern einfach permanent aufpassen, was und wie viel sie zu sich nehmen. Ob jemand normal- oder übergewichtig ist, spielt bei einer emotionalen Essstörung keine Rolle.
Eine kleine Auswahl an Videos von Maria Sanchez zum Thema „Emotionales Essen“
In den folgenden Videos bekommst Du einen Einblick darin, welche Perspektive Maria Sanchez mit Ihrem Konzept Sehnsucht und Hunger auf das emotionale Essen hat.
Emotionales Essen – Die unbewusste Sucht
Emotionales Essen – Die Sucht ist nicht das Problem, sondern die fehlende Begleitungskompetenz. Maria Sanchez spricht über die Gefahr, eine nicht anerkannte Sucht unbewusst gegen eine anerkannte einzutauschen. Was ist der eigene Antrieb – Selbstfürsorge oder Angst?
Textversion des Videos
Hallo und einen schönen guten Tag. Herzlich willkommen zu einer weiteren Folge von Maria Sanchez TV. Im Internet kann man ja mittlerweile vieles finden zum Thema „Emotionales Essen“. Es gibt zahlreiche Videos, die dort gezeigt werden. Es gibt sehr viele Artikel, die man lesen kann – und mir scheint, dass bei sehr vielen dieser Beiträge, dass dabei lediglich das Kontrolldenken, welches früher der Diät innewohnte, dass man dieses Kontrolldenken genommen hat und nun in einen anderen Bereich übertragen hat.
Es ist im Kern genau das Gleiche wie vorher auch, jetzt nur eben versteckter und in einem attraktiveren Gewand. Oder anders ausgedrückt: Die leidvolle Suchtstruktur, die dem emotionalen Essen zugrunde liegt, wurde lediglich eingetauscht gegen eine gesellschaftlich anerkanntere Struktur. Und was das genau bedeutet und warum das natürlich auch Schwierigkeiten mit sich bringen kann, darüber sprechen wir jetzt hier bei Maria Sanchez TV.
Bei der Suchtstruktur ist es ja so eine Sache: Da manche Strukturen anerkannt sind und andere nicht, fehlt uns in manchen Bereichen in unserer Gesellschaft der Blick dafür, was denn eigentlich schon zu einer Suchtstruktur gezählt werden kann. Und was den Betroffenen vielleicht, solange es ganz gut läuft, gar nicht so richtig auffällt. Denn letztlich kann ja jedes Mittel und jede Handlung für eine Suchtstruktur genutzt werden.
Und nun kann man natürlich sagen „Wo kein Leiden ist, ist kein Problem.“, wie ich das eben oft formuliere. Das stimmt. Und es geht auch nicht darum, hier mit erhobenem Zeigefinger zu stehen und zu sagen „Da ist doch bestimmt irgendwo was falsch“. Das interessiert mich natürlich überhaupt gar nicht, sondern worum es mir geht, ist tatsächlich den Blick zu verfeinern. Denn wenn es uns nicht auffällt, dass wir in einer Suchtstruktur hängen und dass wir zum Beispiel das emotionale Essen gegen eine andere Suchtstruktur eingetauscht haben – darüber werde ich gleich noch mal ein bisschen mehr sprechen – dann bekommen wir nicht mit, dass ja in der Suchtstruktur – so verrückt es immer am Anfang klingen mag – in der Suchtstruktur eine Aufforderung liegt.
Wir haben alle die Möglichkeit, unseren Suchtdruck als Anzeiger lesen zu lernen, als Anzeiger dafür, dass wir bestimmte Persönlichkeitsseiten in uns überhaupt noch nicht leben können. Und wenn wir das nicht im Blick haben, dass eine Suchtstruktur darauf aufmerksam macht und uns genau genommen auffordert – so grausam ihre Auswirkungen für uns im Hier und Jetzt ja sein können. Und das kann ja grausam sein. Ich möchte immer wieder sagen, daran ist ja nichts zu rütteln. Wenn ich das so sage, ist es nicht ein „Entweder-oder“, sondern mehr ein „Und“. Wir können sehr unter unserer Suchtstruktur leiden – und das ist wahr – UND es kann eine mächtige Aufforderung in unserer Suchtstruktur liegen.
Und wenn wir süchtig sind – egal ob das, was eine leichtere Suchtstruktur ist oder eine sehr starke – wenn wir eine Suchtstruktur haben, dann leben wir bestimmte Persönlichkeitsseiten von uns nicht genug. Und wenn das der Fall ist, dann muss man sich doch die Frage stellen: „Wessen Leben lebe ich denn dann eigentlich, wenn ich versuche, mich irgendwie wieder in den Griff zu bekommen und irgendwie gut zu funktionieren?“ Wenn wir uns wirklich mit so wenig zufriedengeben, zu sagen: „Aber es läuft doch.“
Ich halte es ja sowieso für absolut unsinnig und absurd, von einer psychischen Gesundheit zu sprechen, wenn wir keine tiefe Beziehung zu uns selbst haben. Wenn wir also bestimmte Persönlichkeitsseiten in uns nicht haben wollen, wenn wir versuchen, sie immer wieder zu kontrollieren, finde ich, ist die Frage berechtigt: „Wessen Leben lebe ich denn eigentlich da?“
Denn das, was ich vielleicht als mein Wunschbild im Augenblick definiere, dass ich sage „So möchte ich sein“, das ist ja – wenn wir das nicht überprüfen – für uns ein Vorstellungsbild, was man uns zu Beginn unseres Lebens mitgegeben hat. Wir haben zu Beginn unseres Lebens vor allen Dingen Liebe und Anerkennung bekommen, wenn wir einem bestimmten Bild entsprechen konnten. Und wir haben ein Bild, was man damals uns nahegelegt hat, wie wir sein sollten, irgendwann zu unserem eigenen Wunschbild von uns selbst gemacht. Wir glauben dann „So bin ich eigentlich“, aber solange wir dieses Wunschbild nicht hinterfragen, können wir diese Aussage überhaupt nicht treffen. Und die Suchtstruktur, das ist zumindest meine Erfahrung, ist wie ein emotional gesunder Aufschrei, dass bestimmte Seiten in uns sagen „Ich bin auch noch da.“
Und wenn wir dann versuchen, gegen sie zu kämpfen, weil wir das Empfinden haben „Nein, nein, so bin ich nicht. Ich bin so, ich will so sein und ich tu ganz vieles, um dem zu entsprechen“, dann, wie gesagt, stellt sich die Frage „Wessen Leben lebe ich denn eigentlich da?“
Es gibt eine ganz einfache Frage, wie wir überprüfen können, ob wir tatsächlich noch in einer Suchtstruktur hängen, denn sehr häufig – und das ist das, wo ich am Anfang begonnen habe mit diesem Video – sehr häufig haben wir eine Suchtstruktur, die das emotionale Essen gegen eine Suchtstruktur, die dann „Sport“ heißt oder die „Beschäftigung mit Ernährung“ heißt, haben wir sie einfach nur eingetauscht.
Wenn dann Menschen sprechen von einem „Freisein von emotionalem Essen“, aber nun jeden Tag – keine Ahnung – oder einen Teil oder zwei Stunden Sport machen MÜSSEN, weil sie sonst, wenn sie es nicht täten, wieder zunehmen würden, dann ist das absurd, denn ich bin immer noch eine Süchtige. Die Frage, die man sich stellen kann, wenn es wirklich um ein Freisein geht, also nicht nur um eine Symptomfreiheit – man kann ja sagen „Gut, ich esse jetzt nicht mehr, dafür mache ich aber jetzt eine Menge Sport“ – sondern wenn es wirklich um ein tieferes Freisein geht, dann muss man sich doch die Frage stellen: „Könnte ich darauf auch ein paar Wochen verzichten?“ Denn das Wesen einer Sucht bedeutet, ich habe keine freie Wahl. Ich MUSS diese Handlung vollziehen, denn wenn ich sie nicht vollziehe, bekomme ich Angst.
Ich habe dann Angst, wieder zuzunehmen, wenn ich nicht Sport mache. Oder ich habe Angst, wenn ich bestimmte Nahrungsmittel esse, die nicht in meinem Plan enthalten sind, dass mir die Kontrolle verloren geht. Und das bedeutet, wenn ich keine freie Wahl habe, dann bin ich immer noch eine Süchtige. Jetzt nur in einem attraktiveren Kleid, in einer gesellschaftlich anerkannteren Form. Aber auch da kann ich nur fragen: „Wollen wir uns wirklich mit so wenig zufriedengeben?“ Also ich glaube, es kann nicht darum gehen, tatsächlich nur wieder gut zu funktionieren und einem Vorstellungsbild, von dem wir nicht mal wissen, ob es wirklich uns entspricht, diesem Vorstellungsbild zu folgen. Das Potenzial, was in uns ist, ist doch so viel größer.
Und es geht natürlich nicht darum, in der Sucht verhaftet zu bleiben. Das ist ja genauso unsinnig. Sondern es geht darum, über die Sucht, über diesen unbestechlichen Anzeiger, der in uns ist, der sich nicht an dieses Vorstellungsbild hält, die Persönlichkeitsseiten in uns, die immer wieder klingeln und sagen „Nimm mich wahr, nimm mich wahr“, den lernen zu begegnen. Es gibt dieses traurig schöne Zitat von dem englischen Philosophen Edward Young, der im 18. Jahrhundert gesagt hat: „Wir werden als Originale geboren und sterben als Kopien.“ Und ich glaube – und das sage ich mit viel Respekt, das möchte ich auch immer wiederholen, mit viel Respekt vor dem, wo eine Sucht uns auch hinführen kann. Sie kann uns ja körperlich auch kaputt machen, aber das ist ja nicht das Problem der Sucht, sondern dass wir keine Begleitungskompetenz, keine Begegnungskompetenz mit der Sucht haben. Denn emotional macht die Sucht Sinn. Sie fordert uns auf, wieder Originale zu werden. Sie fordert uns auf, nicht einfach irgendeinem Bild zu entsprechen, auch nicht, mentale Techniken anzuwenden, um irgendwie wieder gut zu funktionieren und ernsthaft zu glauben, wir seien dann frei.
Wenn jemand sagt „Gut, dann bin ich halt süchtig, aber ich kann mit der Sucht besser leben und es interessiert mich auch nicht genug, wer ich bin.“, dann ist es ja alles wunderbar. Aber wenn uns wirklich interessiert, wer wir eigentlich sind, wenn wir uns mehr leben wollen, wenn wir nicht abhängig sein wollen von Umständen – denn es kann ja auch sein, dass ich mir ein Bein breche und dann kann ich keinen Sport machen. Und dann was? Dann bin ich wieder ausgeliefert. Sport und Ernährung können wunderbar sein, es kann ganz liebevoll sein, aber die Frage ist: „Habe ich eine freie Wahl oder habe ich in der Tiefe die ganze Zeit Angst? Bin ich in einem weiteren Krieg mit mir selbst: Kontrolle und die Angst vor Kontrolllosigkeit? Lebe ich mich genug?“ Das ist das große Geschenk, was in der Suchtstruktur sitzt, wenn wir ihr emotional lernen zu begegnen. Es geht nicht darum, da drin zu bleiben. Es geht nicht darum, zu kontrollieren. Es geht darum, ihr zu begegnen und wieder ein Original werden zu können – gesetzt den Fall, es gibt beim Sport oder bei der Ernährungsumstellung eine Suchtstruktur. Und wie ich eben sagte: Meine Einladung wäre, wenn Sie das gerne machen möchten, mal zu gucken bei der Vorstellung, ich folge nicht diesem Plan, Ich folge nicht dem Sportplan oder Ernährungsplan für ein paar Wochen: Kommt in mir Angst auf? Oder wenn ich es versuche, kommt in mir Angst auf? Und dann würde ich eher empfehlen, der Angst erst einmal nachzugehen, ihr zu begegnen. Denn wenn ich das mehr und mehr tue, wenn ich das Steuer wirklich in die Hand bekomme, weil ich mich mehr lebe, dann habe ich natürlich ganz andere Möglichkeiten, Sport zu machen oder einer Ernährungslehre nachzugehen, weil sie mir körperlich vielleicht sehr guttut. Das ist ja wunderbar, aber als Süchtige – weiß ich nicht – wenn wir unserem Körper etwas Gutes tun, aber emotional uns nichts Gutes tun, ob unterm Strich das dann tatsächlich so positiv ist. Also vielleicht haben Sie Lust, das mal zu probieren, und ich hoffe sehr, dass Ihnen dieses Video dienlich war und freue mich auf Sie, auf das nächste Mal hier bei Maria Sanchez TV.
Maria Sanchez über Emotionales Essen und Depression
In diesem Video spricht Maria über Dynamik von Emotionalem Essen und Depressionen.
Auszüge aus dem Live-Online-Infoabend vom 14.01.2019. Maria Sanchez beantwortet live Fragen der Zuschauer zu den Bereichen „Emotionales Essen“, „Depression“ sowie weitere Themen, die für den eigenen Heilungsweg hilfreich sind.
Textversion des Videos
Einen schönen guten Abend, ich begrüße Sie ganz herzlich zu unserem Online-Infoabend von Sehnsucht und Hunger und EssentialCore. Mein Name ist Maria Sanchez und wir hatten jetzt eben noch kleine technische Probleme, deswegen sind wir ein paar Minuten später. Ich bitte dies zu entschuldigen. Heute Abend möchte ich Ihnen sehr gerne die psychologische Herangehensweise, den therapeutischen Ansatz Sehnsucht und Hunger und auch EssentialCore ein bisschen näherbringen und würde gerne in dem ersten Teil des Abends genau darauf eingehen.
Ich würde gerne erst mal ein paar Worte sagen zu dieser Herangehensweise und zu diesem psychologischen Ansatz. Und im zweiten Teil des Abends – und darauf freue ich mich immer ganz besonders – hoffe ich, dass wir in einen Austausch kommen können, dass Sie, wenn Sie Fragen zu Ihrer persönlichen Situation haben oder auch zu dem, was ich hier erzähle, vielleicht Fragen auch zum Seminar haben, dann können Sie dies sehr gerne tun. Sie können die Fragen an uns stellen, entweder live, indem wir direkt sprechen können, oder wenn Sie den Eindruck haben, das ist nicht so stimmig für Sie, Sie würden lieber gerne ein bisschen anonymer bleiben, dann können Sie das auch in schriftlicher Form tun.
Erst mal möchte ich gerne starten mit dem „Was ist eigentlich Sehnsucht und Hunger und was ist EssentialCore?“. Beide Ausrichtungen haben denselben Ursprung. Der Unterschied zwischen Sehnsucht und Hunger und EssentialCore ist lediglich, dass Sehnsucht und Hunger einmal direkt am emotionalen Essen entlanggeht, am Essdruck entlanggeht und den Essdruck als Wegweiser nutzt zu den tieferliegenden psychologischen Gründen oder emotionalen Gründen. Und bei EssentialCore gehen wir an allen anderen leidvollen, wiederkehrenden, leidvollen Symptomen entlang, wie Depressionen, wie Ängste, Beziehungsthematiken, chronische Erschöpfung, Traumata. Also an alldem, worunter wir Menschen mitunter ja sehr schwer auch leiden und wo es eine Forschungsreise, eine Erkundungsreise ist, auch da zu den viel tiefer gelegenen Gründen. Und wie kommt es dazu, dass es diese zwei Ausrichtungen gibt? Das liegt daran, dass mein Weg, mein eigener Heilungsweg vor mittlerweile mehr als 25 Jahren begonnen hat, indem ich am Essen entlanggegangen bin. Ich werde dazu noch ein paar Worte gleich sagen zu meiner eigenen Geschichte und im Zuge dessen aber ich eben diese Therapieform entwickelt habe. Das war mir natürlich damals überhaupt gar nicht klar. Das hieß auch nicht Sehnsucht und Hunger und auch nicht EssentialCore. Das habe ich damals nur gemacht für mich, weil ich einfach sehr, sehr gefangen war in einem Leidenskreislauf. Und im Zuge dieser ganzen Annäherung an mich selbst, das Herantasten an meine inneren Prozesse konnten auch meine Depression, die ich damals stark hatte – ich war zeitweilig immer wieder suizidal damals – und auch meine Angststörung, die ich seit meiner Kindheit schon hatte, konnten auch Heilung erfahren. Und als auf den Seminaren, auf den Sehnsucht und Hunger - Seminaren, wenn man da natürlich merkt, dass mit dieser Herangehensweise, diese Annäherung an sich selbst es ja zwar am Essen entlanggeht, aber alle anderen Symptome ja mitbehandelt werden, denn um das Essen an sich geht es nie. Es ist nur ein unglaublich großartiger, weil unbestechlicher Kompass, der uns eben auf die tieferliegende Ebene geleiten kann, wenn wir das richtige psychologische Handwerkszeug haben. Da haben natürlich Menschen auf den Seminaren schon vor Jahren gesagt: „Aber, Maria, das kann man doch auf alles anwenden.“ Sag ich: „Ja, das ist wahr, das kann man.“ Aber wir haben erst vor kurzem, nämlich vor zwei Jahren, das erste Mal überhaupt ein Seminar angeboten, was nicht mehr nur das Essproblem im Blick hatte, sondern eben auch die Öffnung da war für Menschen mit Depressionen, mit Beziehungsproblemen usw.
Vielleicht ein paar Worte zu meiner Person, damit Sie auch wissen, mit wem haben Sie es denn eigentlich hier heute Abend zu tun. Ich arbeite als Therapeutin und Autorin in Hamburg. Hier habe ich auch mein Ausbildungs- und Seminarzentrum in Hamburg und bin ursprünglich Spanierin. Ich komme aus Málaga, aus Andalusien und bin mit fünf Jahren nach Hamburg gekommen. Meine Eltern mussten damals aus politischen Gründen Spanien verlassen. Spanien war ja damals unter der Diktatur von Franco und wir mussten damals fliehen. Und ich bin seitdem immer in Hamburg gewesen, also mittlerweile auch schon eine Hamburger Deern und wohne sehr gerne hier, lebe sehr gerne hier.
Meine Kindheit ist von sehr viel Gewalt begleitet gewesen, sehr traumatisierend gewesen. Ich hatte eine starke Dissoziation. Das Wort „Trauma“ war damals nicht so normal. Das ist ja heute zum Glück – da bin ich sehr froh drum – viel populärer geworden, vielleicht manchmal auch etwas inflationär, wenn man das von den psychologischen Gründen aus sieht, aber ich begrüße das zutiefst, dass das mehr ins Bewusstsein rücken kann, weil es eben Erklärungen oftmals gibt an Stellen, wo man sonst gar nicht weiß „Was ist denn eigentlich mit mir los?“. Und natürlich hängt auch das emotionale Essproblem bei vielen Menschen mit Traumatisierungen zusammen. In meiner Geschichte gab es, wie gesagt, Gewalt in unterschiedlicher Form, Übergriffe in sehr unterschiedlicher Form und so habe ich sehr früh schon eine – man kann wirklich sagen – eine schwere Angststörung entwickelt, die aber bei mir tagsüber nicht auffiel, weil sie vor allen Dingen nachts kam und ich tagsüber mir wie eine Fassade aufgebaut hatte. Dass ich gut funktioniere, dass ich nett und freundlich bin und dass ich immer versuche, da mutig und tapfer durch die Dinge zu gehen. Und es ist quasi in Anführungsstrichen erst „aufgeflogen“ mein Überlebensprogramm von Tarnung, als ich meinen ersten Freund hatte mit 16. Denn der hat natürlich, als ich bei ihm übernachtete, mitbekommen, dass ich dann nachts in der Hölle saß und eben viel geschrien habe und geweint habe und immer dachte, ich müsste sterben. Und der dann sehr schnell gesagt hat: „Maria, du brauchst dringend Hilfe. Ich weiß nicht, was hier los ist. Also das sind wie zwei verschiedene Marias tagsüber und nachts.“ Und er hat mir dann irgendwann die Pistole auf die Brust gesetzt. Und weil ich wollte keine Hilfe. Ich wollte das alleine schaffen. Das war damals so mein Programm: „Da muss ich alleine durch, da muss ich kämpfen. Das kriege ich schon hin, da kann ich mich zusammenreißen.“ Und es wurde sehr schnell deutlich, dass er da einen viel klareren Blick auf die Sachen hatte und mir dann die Pistole auf die Brust setzt und sagte: „Wenn du das nicht machst, kann ich mit dir nicht zusammen sein, weil das ist wirklich nicht normal, was hier am Abend oder nachts passiert.“ Ich habe ihn dann immer wieder auch zeitweilig als Bedrohung erlebt. Mein Kopf wusste, er ist nicht bedrohlich, aber ich sah ihn quasi als Täter-Übertragung und dann war das auch für ihn sehr schlimm. Für mich eben auch. Ich habe dann mit 16 meine erste Therapie gemacht und bei einem sehr netten Psychiater, aber da war ich noch nach wie vor in der tiefsten Loyalität zu meiner Familie, natürlich auch durch den spanischen Hintergrund vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als es bei manch anderen Menschen, die nicht aus südlichen Ländern kommen, vielleicht der Fall ist. Für mich war klar, dass ich meine Eltern niemals schlecht dastehen lassen darf und ich sie immer verteidigen muss. Und so … und so war das ein langer Weg für mich, überhaupt mal an den Punkt zu kommen, den Blick mal ganz auf mich zu richten. Ich hatte seit meiner Kindheit schon eine Essproblematik. Es war oft in der Familie Thema „Maria ist zu dick“ und ich habe unglaublich darunter gelitten. Ich habe das gemacht, was alle Kinder tun, die Gewalt erleben. Ich habe mir selbst die Schuld an dieser Gewalt gegeben, war davon fest überzeugt, ich bin nicht liebenswert, habe da sehr mächtige, sehr mächtige Kritiker aufgebaut, die viele Jahre später eben mich auch immer wieder an den Rand des Suizids gebracht haben. Und das war schwer. Aber ich habe sozusagen, wie soll ich sagen, ich habe eine Lösung gefunden, eine vermeintliche Lösung, indem ich meine unglaubliche Ohnmacht gegenüber dieser Gewalt, ich habe ihr ein Ventil gegeben, indem ich in einen Diätenwahnsinn eingestiegen bin. Für mich war klar, wenn ich schlank bin, bin ich liebenswerter und wenn ich liebenswerter bin, hört die Gewalt auf. Das war mein kindliches Denken. Und so wurde es zu einer absolut fixen Idee, dass ich schlank sein muss. Und ich habe mich dann in Extremen bewegt: von gar nicht essen, also wirklich fasten – das war für mich leichter, nur zu fasten war leichter als wenig zu essen – oder eben Essanfälle habend tagelang. Und vielleicht kennen das einige von Ihnen, die gerade zuschauen, dass man einen Essanfall hat, weil man gerade einen Essanfall hatte. Also so nach dem Motto „Jetzt ist eh alles egal!“ und dann ging ich – und das weiß ich von vielen meiner Klienten – in die Vergeblichkeitsschleife. Und dann habe ich gegen das Vergeblichkeitsempfinden von „Ich schaffe es sowieso nicht. Ich komme nie in mein Leben.“ habe ich dann gegen angegessen und gleichzeitig versucht, mich über das Essen abzudämpfen, dass ich diesen Schmerz nicht fühlen muss.
Wie gesagt, es wurde zu einer fixen Idee. Ich war lange Zeit immer wieder auch eine dünne Dicke, wie ich sie nenne. Bei Sehnsucht und Hunger gibt es zwei Kategorien mehr als in der normalen psychologischen oder psychiatrischen Einteilung bei Essproblematiken, nämlich die dünnen Dicken und einmal auch die Pegelesser*innen. Und dünne Dicke nenne ich Menschen, die normalgewichtig sind und die, ja die quasi scheinbar, bei denen scheinbar alles in Ordnung ist. Die machen Sport, die halten sich an Ernährungspläne, aber die können genauso leiden wie übergewichtige Menschen, wenn das Kontrolldenken die Oberhand gewinnt. Also in den Phasen, in denen ich schlank war, war ich nie frei. Ich fand mich immer zu dick. Ich wurde innerlich total attackiert, nach wie vor von sehr, sehr mächtigen inneren Kritikern, also kritische Gedanken.
Heute denke ich, wenn ich Fotos von damals sehe: „Du bist total schlank!“, aber ich fand mich immer zu dick und ich hatte permanent Angst, dass ich wieder zunehme. Damals glaubte ich noch an einen inneren Schweinehund. Bei mir hieß es immer das „Essensmonster“. Heute weiß ich, dass es das überhaupt nicht gibt. Das ist ein sehr, sehr eingeschränktes Bild auf uns selbst. Das ist die oberste Kampfebene und wenn wir damit arbeiten, kommen wir aus dem Kampf nie heraus. Aber damals dachte ich, das gäbe es. Also habe ich gedacht, ich muss mich immer wieder disziplinieren. Und um es jetzt hier nicht zu lang zu machen mit meiner Geschichte: Ich hatte dann vorgehabt, Medizin zu studieren, habe mich darauf vorbereitet und es war für mich klar, das ist jetzt mein Weg. Ich möchte gerne in die Medizin gehen und dann weiter in die Psychiatrie oder Psychotherapie. Das war so mein Ziel. Und habe aber dann aufgrund einer Erkrankung, einer Stoffwechselerkrankung, die lange Zeit nicht entdeckt wurde, in sehr kurzer Zeit, in wenigen Wochen 22 Kilo zugenommen und die Haare fielen mir aus und meine Haut veränderte sich extrem. Also einfach Stoffwechselprobleme. Und das hat bei mir aber dazu geführt – weil ich merkte, ich kann die Zügel nicht mehr halten, ich kann die Disziplin nicht mehr halten – dass ich komplett abgestürzt bin und zwar richtig abgestürzt. Da gab es einen Zusammenbruch. Ich wurde dann sehr schwer depressiv und dann eben über längere Zeit immer wieder auch suizidal. Und habe damals – so furchtbar das war und so dunkel diese Zeit auch war – habe damals eine Sache das erste Mal überhaupt in meinem Leben getan. Ich hatte mir nämlich bis dahin noch nie die Frage gestellt „Warum esse ich eigentlich mehr als mein Körper braucht?“. Die Frage gab es nicht. Es gab mich immer nur „Du bist disziplinlos!“ oder „Du bist auf deiner Spur!“, „Du bist okay.“ oder „Du bist nicht okay.“. Und in der Zeit kamen viele, viele traumatische Dinge hoch. Ich hatte Flashbacks, ich hatte sehr starke Alpträume. Meine Ängste kamen tagsüber auch und es war einfach furchtbar. Nichtsdestotrotz diese Frage, weil ich kannte natürlich schlanke Menschen. Ich war mit einem natürlich schlanken Mann zu der Zeit zusammen und der war für mich wie ein Alien. Dass der sich keine Gedanken machte, wenn er gegessen hatte, auch wenn er mal mehr gegessen hatte, war für mich undenkbar. Also wenn ich gegessen hatte, lief mein Kontrolldenken immer, immer, immer mit. Punkte zählen, alle möglichen Dinge immer einen Blick haben. Wenn ich das und das esse, muss ich am Abend aber weniger essen oder muss ich zum Sport gehen oder eben tagelang oder wochenlang nur noch essend. Und dieser Frage „Warum esse ich eigentlich mehr als mein Körper braucht?“ bin ich dann sehr extrem nachgegangen. Das klingt jetzt leicht. Das war es gar nicht, weil ich damals noch an ein Essensmonster glaubte. Ich dachte, wenn ich keine Light-Produkte mehr esse, keine Cola light, keinen Plastikkäse von >Du darfst
Ich habe damals geschlossen: Ich werde das alles nicht mehr machen. Und ich weiß nicht ... Mich hat mal vor langer Zeit eine Frau auf einem Seminar gefragt: „Glaubst du, du wärst den Weg auch gegangen, wenn du nicht so am Rande gestanden hättest?“ Dann, glaube ich, die Antwort wäre „Nein“ gewesen. Weil was dann begann, war eine sehr, sehr tiefe Reise. Womit ich nicht sagen möchte, dass jeder, der sich auf die Reise macht, an diesem Abgrund stehen muss. Aber ich war ... ich war unglaublich fokussiert darauf. Ich wusste, wenn ich das nicht tue, werde ich nicht, dann kann ich nicht überleben. Und ich habe damals angefangen, im Trial-and-Error-Verfahren, also wirklich durch Versuchen, durch Herantasten Übungen zu entwickeln, die, von denen ich hoffte, dass sie mir helfen würden, irgendwie mich mehr spüren zu können, mehr in Kontakt treten zu können, mich an mich herantasten zu können. Und die meisten dieser Übungen sind im Mülleimer gelandet. Aber einige Übungen, bei denen merkte ich, die haben Bestand. Und mit denen arbeite ich auch heute noch. Und ich bin damals zu einer Therapeutin gegangen, die mir der Psychiater, von dem ich eben sprach, empfohlen hatte, mit der er sehr gute Erfahrungen gemacht hatte. Und dieser Frau bin ich unendlich dankbar. Ihr habe ich auch mein erstes Buch gewidmet, weil sie – das kann ich natürlich heute sagen, wo ich selber eine therapeutische Ausbildung genossen habe – die hat nicht das gemacht, was sie hätte als tiefenpsychologisch fundierte Psychologin machen müsste, sondern sie hat mir unglaublich Raum gegeben und hat eine große Offenheit gezeigt gegenüber den Übungen, die ich entwickelt habe. Es gab bestimmte Dinge, da wusste ich, da kann ich nicht alleine. Das waren traumatische Erlebnisse und da brauchte ich sie als Rahmenhalterin. Und sie hat immer wieder mich sehr ermutigt, weiter Übungen zu entwickeln. Und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Ja, dann habe ich in der nächsten Zeit, das hat drei Jahre gedauert und das ging nicht linear. Es ging vor und es ging zurück. Und ich war oft im großen, großen Zweifel, weil es ja klar war, keine Ernährungsumstellung, kein Sport, keine Diät. Ich gehe nur auf die psychologischen Gründe. Ich gehe nur auf die biografischen Kilo, auf das psychische Gewicht. Wie kommt es, dass der Mann, mit dem ich da zusammen bin, ein natürlich schlanker ist und macht sich keine Gedanken? Wieso ist bei mir die Kopplung von Essen und Emotion so doll gewesen? Das waren die Fragen, die mich unglaublich beschäftigt haben. Es gab auch Tage, da konnte ich das nicht, da ging es mir zu schlecht. Aber dann habe ich wieder angefangen und so habe ich in diesen drei Jahren mit vor und zurück 30 Kilo abgenommen und seitdem auch nie wieder zugenommen.
Und das Besondere bei Sehnsucht und Hunger ist eben, dass es ganz bewusst, wir ganz bewusst nicht mit Ernährungsplänen arbeiten, auch nicht mit Ernährungsumstellung, weil das oftmals meiner Erfahrung nach bei vielen emotionalen Esserinnen und Essern eigentlich nur eine getarnte Diät ist. Wenn ich manchmal Menschen frage auf den Seminaren, wenn sie eine Ernährungsumstellung gemacht haben, und ich frage: „Machst du das in erster Linie für deine Gesundheit oder machst du das, weil du weißt, dass du damit abnimmst?“ Und wenn sie dann sagen: „Ich mache das für meine Gesundheit.“ und ich dann sozusagen noch eine weitere Frage respektvoll hinterherstelle, nämlich indem ich dann frage: „Das heißt, du würdest das auch tun, wenn du drei Kilo zunehmen würdest, wenn deine Gesundheit doch an oberster Stelle steht?“ „Oder wenn du nie abnehmen würdest?“, könnte ich auch fragen. Und wenn die Menschen dann oftmals sagen „Nein, natürlich nicht!“, dann ist das oft eine getarnte Diät. Nichtsdestotrotz: Ich habe nichts gegen gesunde Ernährung und gar nichts gegen Sport. Das können ja wunderbare, liebevolle Dinge sein. Aber zum Ausstieg aus der Essproblematik halte ich es wirklich für unsinnig und kontraproduktiv. Denn solange es einen Plan gibt, gibt es immer noch „Das machst du gut! Und wenn du dich an den Plan hältst, bist du in Ordnung. Und wenn du dich nicht an den Plan hältst, kommen die Ängste und du bist nicht okay.“. Und das hält den Kampfgedanken auf einer oberen Ebene immer am Laufen. Oder ich habe mich vor kurzem mit einer Frau unterhalten, die mit Rohkost ganz viel macht und auch abgenommen hat, und ich ihr dann sagte: „Und was machst du denn, wenn du morgen an einem Ort bist, wo es keine Rohkost gibt? Dann nimmst du wieder zu?“ Ich kann dann verstehen, wenn jemand sagt „Ich habe einen Umgang mit dem Essproblem gefunden.“, aber bei Sehnsucht und Hunger geht es nicht um einen Umgang. Wir sprechen ganz bewusst mit sehr viel Respekt von „Heilung von emotionalem Essen“. Nicht, dass ich was heile – das ist Unsinn, das ist völlig unseriös – sondern indem wir psychologisches Handwerkszeug an die Hand geben, dass man lernt, sich selbst emotional zu begleiten. Weil das ist der Fokus sowohl bei Sehnsucht und Hunger als auch bei EssentialCore: Lernen, sich selbst emotional zu begleiten. Das ist aus meiner Sicht und meiner Erfahrung das Allerschwierigste. Es ist viel leichter mit mentalen Techniken zu arbeiten, aber wenn wir wirklich an den tiefsten Punkt wollen, dort, wo wir die Koppelung von Essen und Emotion begonnen haben, dann ist meine Erfahrung – und ich habe mittlerweile schon viele, viele Menschen begleiten dürfen, über 1000 Menschen begleiten dürfen und auch „austherapierte“ Menschen, also wo es heißt „Da kann man nichts mehr machen“, die gelten als austherapiert, haben 20 Jahre Therapie hinter sich. Cengiz Hakverdi, der nachher noch reinkommen wird, gehört ja auch dazu oder gehörte dazu, galt auch als austherapiert. Und wir können wirklich sagen, wenn man viel tiefer ansetzt, wenn wir nicht versuchen, ständig irgendwie anders zu werden, über mentale Programme jemand anderes zu werden, sondern wenn wir den Essdruck genau nehmen als Wegweiser, dann kommen wir an den tiefsten Punkt und der ist nicht angenehm. Wir haben nicht mit dem Essen begonnen, weil es uns gut ging, sondern weil es uns nicht gut ging. Und man kann aber lernen, mit diesen verwundeten Seiten in sich auf eine Weise in Kontakt zu treten, die heilsam ist. Und das hat auch nichts mit Esoterik zu tun. Da bin ich auch ganz skeptisch demgegenüber, weil wir führen nicht irgendwas ins Licht oder so – das kann auch wunderbar sein, das möchte ich nicht grundsätzlich abtun – aber auch das erleben wir oft auf den Seminaren, dass Menschen viel zu schnell damit sind. Es geht nicht gut, irgendeiner Seite, einer verletzten Kindseite in mir geht es nicht gut und ich bin sofort da und versuche Licht zu geben, wo ich denke: „Warte, wer will denn da in dir gleich Licht geben? Lass doch erst mal einen Moment überhaupt spüren, was ist. Vielleicht müssen Tränen erst mal geweint werden. Vielleicht kommt, indem du die Tränen weinst, ein Wutprozess dahinter. Lass doch dem Prozess einen Moment erst mal folgen.“ Und diese Herangehensweise, dieses psychologische Handwerkszeug ist eben prozessorientiert und nicht zielorientiert oder zielfixiert. Und das sind wirklich zwei Universen, das sind zwei verschiedene psychologische Paradigmen. Man kann lernen, sich selbst emotional zu begleiten. Und wenn man das lernt, dann ist das Schöne dabei, dass eine Freiheit entsteht, weil wir nicht mehr von den Umständen abhängig sind.
Manche Menschen sagen vielleicht „Im Urlaub esse ich viel weniger. Da ist der Stress nicht da.“. Das ist wunderbar, aber das Leben bringt uns manchmal Stress. Und es geht also hier nicht darum, die Umstände nur irgendwie zu perfektionieren. Sicherlich gibt es Dinge, die man auf dem Weg, wo man spürt „Hier muss sich was verändern, das tut mir nicht gut.“, aber der Hauptfokus liegt auf dem psychischen Gewicht und auf dem biografischen Kilo. Und diese Nähe, die dadurch entsteht, diese, wie ich oft sage, die verlorene emotionale Intimität zu uns selbst, kehrt zurück. Und das ist einfach sehr, sehr schön. Das ist ein tiefer Frieden. Aber der geht durch sehr steinige Landschaften. Und da brauchen wir ein inneres Navigationssystem und das zeigen wir halt den Menschen. Und das ist nicht mal eben so, sonst würde ich das natürlich auch sehr gerne in einem Übungsbuch mal eben zeigen. Das geht bei dem tatsächlich nicht, weil es eben nicht zielfixiert ist. Weil wir nicht sagen: „Mach das und das. Du fängst bei A an und dann kommst du bei B raus.“ Das ist beim prozessorientierten nicht. Beim prozessorientierten fängst du bei A an und es kann sein, dass du mal bei B rauskommst und mal bei F. Und das Handwerkszeug ist so aufgebaut – so habe ich das eben auch für mich gemacht damals und so gebe ich das eben auch weiter – dass es nicht um die Übung an sich geht, das wäre ja Quatsch. Die Übungen sind nur eine Brücke, dass wir lernen, uns innerlich zu navigieren, dass es egal ist, ob du bei F, G oder B rauskommst in dir, wenn du beginnst. Du lernst, dich selbst zu begleiten. Und das ist sehr, sehr mächtig. Und im Zuge dessen konnte, wie ich vorhin sagte, die Depression und auch die Angststörung Heilung erfahren. Für mich ist das heute wie ein komplett anderes Leben. Ja, diese Kritiker sind nicht mehr da, schon seit vielen Jahren nicht mehr da. Und mittlerweile habe ich das eben bei vielen Menschen sehen dürfen und freue mich, wenn jemand diese Reise zu sich selbst tatsächlich antreten möchte. Es ist keine schnelle Reise. Es ist nicht „In vier Wochen hast du zehn Kilo.“. Weil es eben um die biografischen Kilo geht. Aber ich glaube, dass einige von Ihnen bestimmt kennen diese schnellen Dinge … Dann nehme ich ab, zehn Kilo ab, aber irgendwann, dann passiert was in meinem Leben: Mein Partner verlässt mich oder meine Partnerin und dann hänge ich wieder in der Schleife. Hier geht es um einen viel tieferen Ansatz, um ein Aufwachen aus biografischen Schleifen.
Ja, und vor noch nicht so vielen Jahren habe ich das dann irgendwann „Sehnsucht und Hunger“ genannt, nachdem immer mehr Menschen mich gefragt haben „Wie machst du das denn da, Maria?“ Und irgendwann war klar, weil es immer mehr wurde: Es braucht einen Namen. Und dann habe ich das „Sehnsucht und Hunger“ genannt. Sehnsucht und Hunger und EssentialCore sind eben auch bei den Depressionen – bei EssentialCore ein sehr ungewöhnlicher Ansatz, weil wir auch da die Selbstbegleitung absolut im Fokus haben. Ich glaube, dass eine echte Freiheit nur geschehen kann, wenn wir zu emotionalen Experten oder zum emotionalen Experten für uns selbst werden. Und das nicht abgeben an einen Plan und auch nicht an eine Person, auch nicht an mich. Also ich habe sicherlich sehr, sehr viel Erfahrung in all den Jahren sammeln dürfen und auch mit wirklich extrem traumatisierten Menschen, wo Essen eben auch ein großes Thema war. Aber ich kann, glaube ich, sagen, ich habe einen reichen Erfahrungsschatz, was das betrifft, aber die Experten können nur Sie für sich selbst sein. Wir können Brücken bauen und in der Einzeltherapie kann ich Menschen sehr tief begleiten.
Und dennoch: Was ist mit den Tagen dazwischen, wenn jemand einmal in der Woche zu mir kommt in die Therapie und dann erlebt sich die Person, wie bei anderen Therapien ja auch, ganz nah. Was ist in den sechs Tagen dazwischen? Und meine Erfahrung ist, das möchte ich abschließend noch sagen: Es ist egal, wie traumatisiert jemand ist. Der kleinste Step geht immer. Man muss sie nur finden, dass jeder Mensch in seinem Tempo ganz langsam, sich langsam annähern kann. In ganz kleinen Schritten. Es sind die Mäuschenschritte, die uns in die Heilung bringen und nicht die großen Schritte.
- Hallo. Schönen guten Abend. Hallo.
- Danke. Schön, dass Sie sich so die Zeit nehmen.
- Gerne.
- Ich habe vor Jahren schon einmal mit Ihnen Kontakt gehabt über Ihre Radiosendung.
- Ja.
- Da ging es mir ganz, ganz schlecht. Ich habe auch 25 Jahre Essstörung hinter mir, ein Stück weit, und jetzt geht es mir seit einem halben Jahr um einiges besser und da wollte ich einfach nur sagen, dass Ihr Buch mir wahnsinnig Mut gemacht hat und dass es auch genau das ist, in klitze-, klitzekleinen Schritten.
- Das freut mich sehr zu hören. Das ist ja ganz wunderbar, weil ein Essproblem zu haben, kann einem ja so unglaubliche Lebenskraft rauben. Wenn Sie sagen, Sie sind auch schon so lange damit unterwegs, das können sich ja oft Menschen, die nicht ein Essproblem haben, kaum vorstellen, wie gebunden, wie gefangen man da drin sein kann. Von daher freut es mich sehr, wenn Sie sagen, dass es Ihnen da besser geht. Danke schön – ja für die Rückmeldung. Haben Sie eine konkrete Frage noch oder wollten Sie das gerne sagen?
- Nein, nein, ich wollte es einfach nur mal loswerden.
- Das finde ich nett. Das ist schön.
Zum Thema Glaubenssätze würde ich tatsächlich noch ein bisschen weiter ausholen, und hoffen, dass Ihnen das helfen kann. Meine Erfahrung ist – und in meinem neuen Buch, das ist ja gerade erschienen, beschreibe ich das noch ein bisschen ausführlicher, nämlich in dem Kapitel „Glaubenssätze sind nicht das alleinige Problem“. So heißt das Kapitel dort, weil es zwei Arten von Glaubenssätzen genau genommen aus meiner Erfahrung heraus in der Arbeit mit Menschen auch gibt. Genau. Es gibt zwei Arten von Glaubenssätzen: Einmal die, wo es um die Art und Weise geht, wie wir die Welt wahrnehmen, durch die Brille, durch die wir gucken. Das spielt ja eine große Rolle, aber das sind oft Glaubenssätze, die wir hinterfragen können, die wir manchmal auch drehen können. Meine Erfahrung ist aber: Es gibt Glaubenssätze, die sind quasi wie die obere Schicht, weil sie eigentlich eine Verwundungswurzel haben. Und da ist nicht das, was die Kraft gibt, dass dieser Glaubenssatz bestehen bleibt, der Glaubenssatz an sich, sondern die Verletzung, die mit ihm einhergeht. Ich würde ihn gern ein Beispiel nennen, damit es greifbarer wird. Das beschreibe ich eben auch in diesem Buch. Aber damit man es noch ein bisschen mehr greifen kann: Wenn wir zum Beispiel den Satz nehmen „Du musst deinen Teller aufessen.“ und wir nehmen zwei Personen „Person A“ und „Person B“. Beide haben in ihrem Leben den Glaubenssatz aufgebaut „Du musst deinen Teller leer essen oder aufessen, musst immer alles aufessen.“ Person A hat diesen Glaubenssatz unbewusst übernommen, hat das als Kind oft gehört von den Eltern und hat es einfach übernommen. Bei dieser Person, bei Person A wird eine Bewusstwerdung „Aha, ich laufe hier mit einem bestimmten inneren Programm umher, wie so eine innere Software, die immer wieder abläuft“. Dieser Glaubenssatz, wenn er einmal erkannt ist, kann er bearbeitet werden und kann sich dann auflösen. Person B hat auch diesen Glaubenssatz, aber an diesem Glaubenssatz sind sehr schmerzhafte Erfahrungen. Person B hat nämlich im Kindergarten gehört „Du musst deinen Teller leer essen.“ und weil sie sich gewehrt hat, das zu tun, musste sie stundenlang an dem Tisch sitzen bleiben, bis sie ihren Teller endlich leer gegessen hat. Es gab also eine Demütigung. Sie wurde in die Ecke gestellt: „Du bist nicht artig.“ Sie wurde bestraft. Man hat versucht, ihren Willen zu brechen. Das heißt an den Glaubenssatz von Person B „Du musst deinen Teller leer essen.“ … Da ist der Glaubenssatz nicht das Problem, sondern die Verletzung darunter. Und da kann ich oben versuchen, mit den Glaubenssätzen tausendmal zu arbeiten, die Verwundungswurzel greift viel tiefer in die emotionale Ebene rein. Und an der Stelle kommen wir mit bestimmten Techniken. Wir drehen den Glaubenssatz oder wir stellen einen anderen ihm entgegen, gar nicht weiter. Weil das, was es braucht, ist eine emotionale Begleitung der Seiten in mir, die damals diese Demütigung oder diese Verletzung oder die Ohnmacht, je nachdem, was bei jemanden war, ertragen mussten.
Es kann also sein wie bei einer Klientin von mir. Person B kenne ich real jetzt aus der Praxis auch, und zwar nicht nur eine. Aber in dem Buch habe ich eine ganz bestimmte Klientin vor Augen gehabt, als ich das aufgeschrieben habe. Bei ihr war das so und sie hat eine unglaublich rebellische Seite in sich entwickelt. Das ist völlig verständlich. Ein verlassenes inneres Kind, was immer wieder deutlich gemacht hat, sobald sie versucht hat in irgendeine Form ihrem Essproblem beizukommen, kam dieses Kind zum Vorschein – hat eben sehr deutlich gesagt: „Ich esse, wann ich will und was ich will, und ich tue nicht mehr, was mir irgendjemand sagt.“. Dieses Kind natürlich letztlich, das zu den Leuten gesagt hat, die damals die Macht hatten und versucht haben, sie klein zu halten, zu verletzen und zu demütigen, wo sie in der Ohnmacht war, nicht aufstehen durfte vom Tisch und so weiter. Das heißt, wir mussten erst überhaupt lernen, sie musste für sich lernen – und ich durfte sie dabei begleiten und ihr mit den Übungen ein Handwerkszeug an die Hand geben – lernen, mit diesem Kind emotional in Kontakt zu treten, die Wut auszudrücken, die Tränen auszudrücken, die Ohnmacht, all das, was eben da war. Weil erst dann – und so war das bei ihr auch – konnte ganz langsam der Glaubenssatz oben sich lösen. Dann bekam sie eine Wahl. Davor hat sie alles Mögliche versucht mit dem Glaubenssatz zu machen – mental. Es hat nicht geklappt, weil die Wurzel war das Emotionale. Die emotionale Verletzung.
- Ich kann Sie hören. Hallo und schönen guten Abend.
- Hallo. Guten Abend, Frau Sanchez. Oh Gott, ja, ich bin ein bisschen aufgeregt, Entschuldigung.
- Ja.
- Ja, also es ging mir darum. Ich habe mich ganz am Anfang, als Sie geredet haben, ich habe gedacht, ich rede da, also auch schwerst frühkindliche Traumata. Und ja, also um alles ganz kurz zu fassen: Ich war bis 2015 stark übergewichtig, 170 Kilo bei 1,68 m, habe 2015 aber eine Magenverkleinerung gemacht, aktuell 77 Kilo, habe also sehr viel abgenommen. Und 2016 im Sommer kam dann der totale Zusammenbruch, wo alles noch mehr rausgekommen ist – natürlich. Und seit Sommer letzten Jahres mache ich also auch eine Traumatherapie. Meine Frage jetzt an Sie, weil bei mir dreht sich immer noch alles um Kalorien, nie wieder dick werden, schwerste Ängste, also auch wieder zuzunehmen. Also am Anfang habe ich auch exzessiv Sport gemacht, also vier- bis fünfmal in der Woche nur Ausdauer. Und ich habe dann zwei Straffungs-OPs auch hinter mir, weil bei so viel Masse, die ich verloren habe, ist das klar.
- Ja, klar.
- Da konnte ich zeitweise natürlich auch keinen Sport machen. Da habe ich dann auch so 3–4 Kilo zugenommen. Also eigentlich ist jetzt meine Frage: Oh, ich bin so aufgeregt, Entschuldigung.
- Sie müssen sich nicht entschuldigen, das kann ich sehr verstehen, jetzt hier zu sprechen und so, klar. Nehmen Sie sich Zeit, nehmen Sie sich Zeit.
- Also ich habe zwar jetzt einen Traumatherapeuten, aber da wird nicht so sehr auf mein Essen eingegangen, also bzw. ist vielleicht jetzt auch noch nicht so die Zeit. Vielleicht bin ich auch selber ungeduldig, aber ob ich Seminare trotzdem bei Ihnen zum Beispiel machen kann?
- Ja, es gibt viele Menschen, die auf … oder wollten Sie noch etwas sagen? Sagen sie gerne noch.
- Ob das vielleicht zu viel dann für mich wäre? Also ich habe auch mit Dissoziation zu kämpfen. Ja, genau, dass Sie jetzt Bescheid wissen.
- Ja, erst mal danke ich Ihnen, dass Sie da jetzt so offen auch darüber sprechen. Das ist ja auch sehr persönlich, was Sie sagen. Ich würde vorschlagen, Ihren Therapeuten direkt zu fragen. Wir haben immer wieder Teilnehmer, die schon in Therapie sind. Und wir werden ja auch teilweise von Kliniken und Ärzten empfohlen, wo Leute eben über Empfehlung auf das Seminar kommen. Von daher wäre mein Vorschlag, damit Ihr Therapeut, der kann Sie ja bestimmt auch gut einschätzen, ob das vielleicht etwas ist, was dienlich sein kann oder ob es im Augenblick vielleicht ein bisschen zu viel ist. Von dem, was Sie erzählen, möchte ich erst mal sagen: Sie sind eben in diesem Kampf ja noch drin. Und ja, und das erfahren wir auch immer wieder, dass Menschen eben eine OP gemacht haben und quasi äußerlich hat es sich verändert und man hat ja auch am Anfang ein großes Hochgefühl. Eine Frau nannte das mal „Honeymoon mit mir selbst“, wo sie meinte: „So im ersten Jahr, anderthalb Jahre war das unglaublich.“ Und dann sagte sie, dann war sie wieder mit sich und dann hat sie gemerkt: „Oh Gott, diese permanente Angst!“ Der Krieg hört einfach nicht auf. Dieses „immer weiter Kalorienzählen“ und so und die Angst, dass es doch wieder losgehen könnte.
Von daher kann ich das erstmal sehr verstehen, was Sie sagen, und es muss ja letztlich darum gehen, dass Sie aus diesem Krieg aussteigen, dass es nicht immer weitergeht und dass diese Angst – Angst erschöpft ja auch den Körper, erschöpft die Seele. Und die Angst will ja auch etwas von uns. Angst ist ja nicht nur etwas, was schlimm für uns zu spüren ist, weil es so unangenehm ist, sondern da ist ja eine wichtige Information drin, denn die Angst zuzunehmen, ist ja letztlich oft eine Angst, die Kontrolle zu verlieren. Und diese Angst kam in der Regel eben – wie Sie auch sagen, wenn Sie Traumatisierung auch haben, traumatische Dinge erleiden mussten – kam ja viel früher in unser Leben. Auf der Essproblem-Ebene zeigt sich das Ganze eben. Und wenn Sie fragen „Könnte ein Seminar sinnvoll sein?“, möchte ich Ihnen gerne aus meiner Erfahrung sagen, wenn Ihr Therapeut einverstanden ist, dass das sehr gut Hand in Hand gehen kann, weil wir das immer wieder erleben auf den Seminaren und wie gesagt, auch Ärzte, Therapeuten und auch Kliniken uns Leute auch tatsächlich schicken. Denn es ist ein Unterschied, ob wir grundsätzlich an unseren Themen arbeiten oder ob wir am Essen entlanggehen, wo der Essdruck uns an die tiefste Verletzung führen kann und wir dort lernen, auch da uns emotional zu begleiten. Und Sie können auch nach dem Seminar – auch das hören wir immer wieder von Leuten, die dann später uns schreiben – können Sie natürlich auch mit ihrem Therapeuten da weitergehen und sich auf dieser Ebene kennenlernen und danach im Alltag, wenn Sie merken, das sind Traumatisierung, brauchen Sie ja auch eine Therapeutin oder einen Therapeuten, dann weitergehen.
- Okay, Frau Sanchez, dann danke ich Ihnen vielmals.
- Ich danke Ihnen auch und ich wünsche Ihnen wirklich alles Gute. Ich finde das ganz unglaublich den Weg, den Sie da gehen.
Wir versuchen nicht, etwas zu überwinden, gegen etwas anzugehen, uns in den Griff zu bekommen, mental irgendwas zu machen, damit wir uns anders ausrichten, sondern es geht gerade darum, sich über das leidvolle Symptom viel tiefer kennenzulernen. Weil, was ich auf meinen Veranstaltungen immer sage und was ich jetzt auch in diesem neuen Buch ja gleich am Anfang gestellt habe, ist – und das meine ich aus tiefster Seele: Mit uns ist nichts verkehrt. Schon jetzt nicht. Wir sind eben keine Fehler, die man berichtigen muss. Und solange wir glauben, wir müssen uns erst noch mehr entwickeln, wir müssen erst noch etwas mehr transformieren, wir müssen uns in den Griff bekommen, wir müssen irgendwie ständig ... wir müssen, wir müssen, wir müssen … bleiben wir im grundsätzlichen Kampf mit uns selbst verhaftet. Und es ist aber ganz stark dieser Kampf, der uns in dieser Essproblematik hält. Und Sehnsucht und Hunger geht da einen völlig anderen Weg und arbeitet eben ganz bewusst nicht mit mentalen Programmen, mit einem „Mach mal das, damit du dann endlich okay bist!“, sondern bringt vielmehr die Betroffenen in eine Position, dass ein sehr tiefes Mitgefühl automatisch entsteht. Nicht durch Übungen, die wir machen, Mitgefühlübung, sondern es kann ja sein, dass jemand auf seinem Weg startet und sich abgrundtief hasst. Es kann ja sein, dass jemand sagt: „Ich finde mich furchtbar!“ Ich weiß, ich habe mich damals komplett abgelehnt. Ich fand mich eklig, ich fand mich unmöglich und es ist ja Quatsch damit irgendeiner Pseudoakzeptanz zu kommen. Der Weg beginnt für diese Person dann mit dem Selbsthass, mit der Selbstablehnung und dass wir lernen diese Seite in uns – denn wir sind nicht mit einer Ablehnung geboren worden; irgendwann kamen sie in unser Leben – dass wir lernen, durch die emotionale Selbstbegleitung an den Ursprung dieser Erfahrung zu kommen. Das Wissen „mein Vater hat das und das gemacht, meine Mutter hat das und das gemacht“ das nützt uns nichts. Das Wissen kann einem einen Überblick verschaffen, aber das ist wie ein Flugzeug. Da fliege ich über eine bestimmte Landschaft und sehe dann „Aha, da ist das und das.“, aber wenn ich das Land kennenlernen möchte, muss ich irgendwann landen und aus dem Flugzeug aussteigen. Und das psychologische Handwerkszeug gibt eben einen Kompass an die Hand. Das ist ein inneres Navigationssystem, dass ich mich dort, wo ich lande, wo ich aus dem Flugzeug aussteige, mich lerne zu navigieren.
Es gibt nicht nur einen Essdruck. Es gibt ganz unterschiedliche Formen von Essdruck. In einem meiner YouTube-Videos habe ich das ein bisschen beschrieben. Es gibt einen Essdruck, den ich vielleicht habe, weil ich müde bin und dann kann es mir helfen, wenn ich mich hinlege. Und dann ist der Essdruck danach vielleicht nicht da. Es gibt aber auch einen Essdruck, da lege ich mich hin, wache dann auf am Nachmittag und habe noch viel mehr Essdruck. Oder es gibt einen Essdruck, da hilft es mir vielleicht, spazieren zu gehen oder ein Bad zu nehmen. Aber es gibt genauso einen Essdruck, der ist nämlich viel tiefer: Da nehme ich ein Bad und fühle mich wunderbar damit, steige aus der Wanne, gehe zum Kühlschrank und habe einen Essanfall. Der Essdruck ist ein unglaublicher Verbündeter, wenn wir lernen, ihn nicht mehr zu bekämpfen, sondern wenn wir lernen, ihn als Wegweiser zu nutzen.
Ob das EssentialCore ist, wo man vielleicht eine Seite hat, die depressiv ist. Das kann man also austauschen: depressiv oder Essproblematik. Dann haben wir in der Regel immer auch eine Seite, die sagt „Ich will das nicht haben!“. Es wird immer mit der Seite gearbeitet, die das Essproblem hat, die die Depression hat, die die Ängste hat. Meine Erfahrung auf meinem Weg ist: Damit wäre ich nicht herausgekommen aus der Kampfschleife, sondern mir hat unglaublich geholfen – und da gibt es eben Übungen – dass ich auch mit der Seite arbeite – und das beschreibe ich in diesem neuen Buch eben sehr ausführlich – auch mit der Seite arbeite, die sagt „Ich will nicht depressiv sein, ich will endlich schlank sein, ich will endlich in mein Leben kommen.“. Diese Seite in uns, die eben nicht genug leben kann, braucht genau so eine emotionale Selbstbegleitung. Beide Seiten sind in Not, sodass wir bei diesem Ansatz EssentialCore und Sehnsucht und Hunger viel tiefer ansetzen. Wir arbeiten nicht nur mit dem Symptom. Wir arbeiten mit dem System, und zwar mit dem emotionalen System. Das mentale ist auch mit drin. Ganz klar: Wir haben Glaubenssätze. Aber wie ich vorhin sagte, bei der Beantwortung der Frage der einen Dame, der einen Frau: Die Verwundungswurzel der Glaubenssätze, die wirklich Macht haben, die geht in die emotionale Ebene rein. Deswegen halte ich die emotionale Selbstbegleitung für den Schlüssel, wenn es darum geht, aus der Leidensschleife auszusteigen. Schmerzen werden wir trotzdem haben. Wir sind Menschen. Das Leben fasst uns nicht immer wunderbar an, aber das ist nicht mehr das Problem. Das Problem ist, wenn wir in dieser Leidensschleife festhängen und glauben „Ich werde es niemals schaffen“, wenn die Ohnmacht so da ist und wenn wir lernen uns zu begleiten, können wir uns immer abholen, egal, wo wir stehen. Und das lässt ein tiefes Vertrauen wachsen und eben das Empfinden, wenn wir diese Seiten begleiten von „Mit mir war nie etwas verkehrt. Mein Essproblem ist im Prinzip auf der emotionalen Ebene ein gesunder Aufschrei.“ Das klingt ja erst mal völlig verrückt und ich sage das und ich wiederholt das immer wieder mit dem tiefsten Respekt: Leiden kann grausam sein. Daran ist ja nichts zu beschönigen. Und wenn wir uns kennenlernen: Wo ist der Ursprung meines Essproblems oder meiner Depressionen? Oder meine immerwährenden kreisenden Beziehungsthematiken? Wenn wir da zum Ursprung geleitet werden, innerlich entlang, dann spüren wir: „Mit mir war nie etwas verkehrt, ich bin nicht verkehrt.“ Da ist eine Seite in mir, die klopft seit Jahren oder Jahrzehnten an und sagt: „Bitte nimm mich wahr, hilf mir.“ Und bisher kommen wir ihr bei, indem wir immer wieder sagen: „Okay, ich schraub noch mal an dir. Hier hast du noch einen Plan. Sei doch mal irgendwie anders. Oder hast du ein Medikament?“ statt überhaupt erst mal zu gucken „Okay, warte mal, wer bist du denn?“ Auch die sogenannte liebevolle innere Kind-Arbeit ist ja oftmals – sicherlich auch nicht immer; wäre ja idiotisch zu sagen „immer“ – aber meine Erfahrung ist oftmals liebevoll getarnte innere Gewalt. Ganz viele Menschen widmen sich ihrem inneren Kind zu, damit es dann aber doch bitte endlich verschwindet, damit die traurige Kleine in mir doch bitte dann endlich geht. Und wir würden jetzt bei Sehnsucht und Hunger und EssentialCore sagen: „Wer ist die Seite in mir, die sagt ,Ich will, dass sie endlich verschwindet, weil die hat doch auch ein Daseinsrecht.‘“ Es gibt die traurige und es gibt diese Seite, die sagt: „Ich will nicht mehr traurig sein“. Mit beiden gilt es in die Selbstbegleitung zu gehen, damit ich aus dem Kampf aussteige, aus dem grundsätzlichen Kampf aussteigen, sonst hört er nie auf.